Viel Fußball

In einem Spiel, das von allem, was Fußball ist, viel hatte, gewinnt Union gegen Aufsteiger Holstein Kiel 4-3 (3-3[sic]).

Expected goals Karte

Die Expected Goals Karte des Spiels zeigt, dass nicht 'jeder Schuss ein Treffer' war, sondern das Ende jeden Angriffes ein Abschluss aus guten Positionen. Die dann auch noch überdurchschnittlich gut verwertet wurden. Die Graphiken stammen von 11tegen11, hier erkläre ich sie kurz.

Grundausrichtung

Vor dem Spiel hatte Jens Keller angekündigt, vielleicht mit einer taktischen Umstellung offene Räume in Kiels 4141 Formation, die zunächst unverändert zum Saisonstart auflief, finden zu wollen. Dieser Korrespondent vermutete, dass Unions Anpassung darin bestehen könnte, die Mittelfeldaufteilung mit zwei Sechser und einem Zehner umzukehren und stattdessen Damir Kreilach eine Position vor dem dann alleinigen defensiven Mittelfeldspieler Kroos agieren zu lassen.

Union-Kiel

Spieltag 2, 4. August, 1. FC Union Berlin - Kieler SV Holstein, die Aufstellung zu Beginn. Nach einer Viertelstunde wechselte Union zurück zum aus Ingolstadt bekannten 4231.

In gewisser Weise war dem dann auch so. Allerdings ging die Umstellung etwas weiter: Union trat mit einer Raute und asymmetrischen Offensive auf. Simon Hedlund spielte in einer ungewöhnlichen Rolle als linker Achter, Kreilach als sein Pendent halb-rechts, Hartel tatsächlich zentral offensiv.

Die Asymmetrie kam mit Steven Skrzybski ins Spiel etwas hinter Sebastian Polter als zweite Spitze spielte und je einen der Flügel besetzte. Dass Skrzybski so in der Kieler Hintermannschaft schwer zuzuordnen war, erlaubte es ihm, immer wieder recht frei zu stehen, und so schließlich das 2-2 zu erzielen. Aber in den 24 Minuten bis dahin war ja schon einiges passiert.

Kontermania

Der offensichtlich zentrale Faktor in der super-turbulenten Anfangsphase war das sehr gute und erfolgreiche Konterspiel der Kieler, mit dem die Gäste zweimal in Führung gingen und weitere Male gefährlich waren. Vor jeder Fehleranalyse auf Seiten Unions muss dazu gesagt werden, dass Holstein seine Konter sowohl individuell (Kingsley Schindler!) als auch kollektiv sehr entschlossen und geschickt spielte. (Neben den Toren ist der Angriff nach genau vier Minuten ein sehr gutes Beispiel.)

Pässe

Kiels offensive Mittelfeldreihe agierte aus etwas tieferen Grundpositionen als in der letzten Woche, als sie auf Dukschs Höhe lag.

Trainer Markus Anfang hatte klar vorgegeben, Unions weit nach vorn rückenden Außenverteidiger konsequent zu attackieren, und die Kieler Außenstürmer taten das auf beiden Seiten. Sie besetzten in sehr vielen Umschaltbewegungen beide Flügel und das Zentrum (die Mitte oft auch doppelt) und zwangen so Union in unangenehme Entscheidungen und Verteidigungssituationen.

Aber natürlich hatte Unions Ausrichtung einen Anteil daran, die Bemühungen Kiels so effizient zu machen. Das hatte neben den taktischen Zusammenhängen der Formationsänderung auch strategische Aspekte: Unions Offensive ist nicht auf große Ballsicherheit ausgelegt - in den Worten von Sebastian Polter: "... unsere Qualität ist einfach das Pressing, Bälle vorne gewinnen und dann schnell in die Schnittstelle zu spielen: direkt, ohne irgendwelche Überlegungen." Aus dieser Spielweise mit vielen Aktionen mit mittleren Erfolgsquoten und hohem Ertrag entstehen zwangsläufig relativ viele abgefangene Angriffe. Das defensive Konzept für diese Situationen ist wiederum das Gegenpressing, dass die gegnerische Abwehr nach Ballgewinnen an konstruktiven Aktionen hindern soll. Aber dieses Gegenpressing ist umso weniger effektiv je einfacher die Entscheidungsfindung des Gegners ist, und je geringer der Druck ist, unter dem sie stattfindet.

Unter diesen Bedingungen wirkte sich die taktische Umstellung defensiv verheerend aus: mit etwas weniger Präsenz in der letzten Linie war Unions Gegenpressing etwas weniger zwingend, und konnten die Kieler Verteidigung den klaren Plan ('asap die Außenstürmer schicken') gut umsetzen. Ohne Außenstürmer mussten sich die Außenverteidiger noch weiter vorn postieren und hinter sich noch größere Räume lassen als ohnehin schon. Und mit nur einer Planstelle im defensiven Mittelfeld, die mit Kroos noch dazu eher offensiv besetzt war (im Vergleich zum vor allem im Antizipieren gefährlicher Situationen deutlich besseren Fürstner) fehlte eine weitere Instanz zur Absicherung.

Kristian Pedersen

Es gibt Fußballanalysten, die die Rolle von Außenverteidigern im modernen Fußball für unmöglich halten. Christopher Trimmel und Kristian Pedersen wird das heute auch so vorgekommen sein. Vor allem das Spiel des dänischen Linksverteidigers ist noch ein paar Worte wert.

Pedersens

Hatte eine komplizierte Aufgabe: Kristian Pedersen, instruiert von Henrik; Photo: Hupe, union-foto.de

Denn neben den genannten allgemein schwierigen Aspekten der Rolle der Außenverteidiger in Unions System hatte Pedersen individuell auffällige, ambivalente Szenen. Dazu gehörten mehrere lange Dribblings zwischen Mittellinie und gegnerischem Strafraum, von denen eines besonders markant war (22:30). Diese Dribblings waren etwas bizarr, da sie einerseits Pedersen noch weiter vorn der Gefahrenzone auf Unions defensiven Flügeln weg trugen, und andererseits auf Räume zielten, die ohnehin schon durch den Rest der Mannschaft besetzt waren. Es ist nicht ganz leicht vorstellbar, dass diese Aktionen im Konzept des Trainerteams vorkamen. Im Gegenteil gab es mindestens drei Szenen, in denen Pedersen zu verhalten agierte, Läufe auf dem Flügel abbrach und so Pässe (vor allem von Hedlund) ins Leere gingen oder nicht gespielt werden konnten. In diesen Momenten mag sich die psychologische Last der Gegentore bemerkbar gemacht haben - könnte man meinen, wenn nicht eine davon schon in der 9. Minute vor all der Verrücktheit passiert wäre. Alles in allem war es jedenfalls nicht das glücklichste Spiel des jungen Dänen bei Union.

Union nach vorn, mit Ball und ohne

Nach dem 2-1 für Kiel brach Union das Rautenexperiment ab und kehrte zum 433/4231 zurück. Die defensiven Probleme wurden damit aber nicht gelöst (wie einige Kieler Chancen auch vor dem 3-3 zeigten). Das ist insofern nicht verwunderlich, als der Plan von Kiels Trainer Anfang ja von Anfang an auf dieses System ausgerichtet war.

Pässe FCU

Fast ironischerweise zeigt die Passgraphik für Union im Durchschnitt genau die Lösung, die ich vor dem Spiel erwartet habe, auch wenn Union zu keinem Zeitpunkt so gespielt hat.

Inkohärenzen gab es aber nicht nur in Unions Defensivkonzept, sondern auch im Pressing. Während das wohl eigentlich kollektiv hoch und aggressiv angebracht werden soll, zerfiel es an diesem Abend oft in individuelle Aktionen, die selten effektiv waren. Immer wieder presste eine der drei Pressingspitzen Unions (Polter, Skrzybski, Hedlund) allein den Aufbau der Störche, die dabei nur hin und wieder ohne zwingenden Grund in Panik gerieten.

Dagegen funktionierte das Prinzip, das auch hinter dem Formationswechsel stand, schließlich doch: die eher schwache Absicherung der Halbräume in Kiels 4141 auszunutzen. Das war beim 3-2 gut zu sehen, als einerseits Torrejón unter wenig Druck stand und einen schönen Pass auf Skrzybski spielen konnte, der sich in Peitz Rücken gut frei lief, und dann einen perfekten Schnittstellenpass auf Hedlund spielte. Wie das Tor zum 2-2 stand diese Szene nicht nur für die individuelle Qualität der Union Offensive, sondern auch für deren Dominanz im Zwischenlinienraum und gute Laufwege in Abschlusspositionen.

Kiel versuchte schließlich, dieses Problem in den Griff zu bekommen, indem es Peitz einen zweiten Sechser zur Seite stellte, doch kam diese Umstellung defensiv zu spät, und verringerte gleichzeitig die Effektivität der Gegenangriffe, bei denen das Zentrum nun schwächer besetzt war.

Eine offene Frage ist, warum es Union wie schon am ersten Spieltag nicht gelang, ein Spiel bei Führung in der Schlussphase zu beruhigen. Nun war ruhig zu sein in diesem Spiel tatsächlich nicht einfach, aber etwas mehr Kontrolle hätte Union in der Schlussphase gut getan. Stattdessen gab es viele recht planlos nach vorn in die vage Richtung von Sebastian Polter geschlagene Bälle, die für Befreiung mit geringer Halbwertzeit sorgten. Da die Mannschaft erwiesenermaßen über die technischen Fähigkeiten zu defensivem Ballbesitzspiel verfügt, ist nicht ganz offensichtlich, warum sie dies in passenden Situationen nicht einsetzt, und ob das gewollt ist.

Szene des Spiels

Dieses Spiel bot sehr viel, fast zu viel Auswahl. Aber vielleicht symbolisiert gerade aus Sicht von Union ein Dribbling von Torrejón gegen Drexler (36:55) am besten, wie das Spiel auf Grund eigener Entscheidungen das Spiel beinahe schief gegangen wäre, es aber durchaus wegen echter Qualität der Mannschaft von Jens Keller nicht tat.

Stevielove

In überragender Form: Steven Skrzybski, Photo: Hupe, union-foto.de

Würde ich hier einen Spieler des Spiels küren, wäre das zweifelsohne Steven Skrzybski, der sich beim 2-2 und beim 4-3 und einem Schuss in der Anfangsphase als Inkarnation von Dennis Bergkamp zeigte.

vgwort